Die Luft riecht förmlich nach Tod und Terror. Nach verbranntem Fleisch, glühendem Metall, verschmorten Kabeln, angesengtem Kunststoff. Dichte dunkle Rauchschwaden aus tiefen Erdkratern steigen in einen azurblauen Himmel, aus dem vor kurzem der stählerne Tod herabgestürzt ist. Die Flammen sind größtenteils gelöscht. Häuser in Schutt und Asche. Blinkende Blau-, Rot- und Orangelichter. Auf- und abheulende Sirenen. Korsos von Polizei-, Feuerwehr- und Rettungswagen. Heisere Schreie und bellende, nervöse Befehle, die durch die Trümmer gellen. Einige Flugzeugteile haben noch Straßenzüge von der Absturzstelle entfernt Hausdächer und Autos durchschlagen. Im Umkreis verstreut liegen verkohlte Körperteile der über zweihundertsechzig Toten der American-Airlines-Maschine. Die kleine Siedlung Rockaway Beach im Stadtteil Queens, ansonsten eine friedliche Oase aus Bungalows, Geschäften und zwei Grundschulen, gleicht einem Inferno.

New York, 12. November 2001: Eine Stadt im Ausnahmezustand. Genauso und fast auf den Tag genau wie zwei Monate zuvor, am 11. September als Flugzeuge – gesteuert von mutmaßlichen Terroristen – die Twin Towers des World Trade Centers und zum Teil das Pentagon in Washington zerstörten. Eine Stadt, eine Nation, die ganze Welt unter Schock.

Ich stehe mit meinen Kollegen am Rande der Katastrophe, des „Hellfire“, wie die „New York Post“[1] am nächsten Tag titeln wird. Mitten im Katastrophenviertel. Rund fünfundzwanzig Kilometer von Manhattan, von Ground Zero entfernt. Um uns herum das hektische Treiben der Rettungskräfte und die geschockten Bewohner des Viertels, die noch einmal mit ihrem Leben davon gekommen sind. Wir interviewen bleiche jugendliche Schüler der „Young Israel of Belle Harbour“-School, unweit der Absturzstelle. Orthodoxe Juden fahren Coladosen und Mineralwasserflaschen in Schubkarren zu den Helfern. Ein rußbedeckter Feuerwehrmann erzählt uns von dem grauenvollen Blick, den er bei seinem Einsatz in diese Hölle geworfen hat.

Meine Kollegen und ich sind zufällig hier. Eigentlich haben wir an diesem sonnigen Montagmorgen einen Termin mit einem Captain des Queens Police Departement. Wir suchen nach einem 18-jährigen Mädchen, das mit ziemlicher Sicherheit mit falschen Versprechungen betreffs einer Tanzkarriere am Broadway von Deutschland nach New York gelockt worden ist. Seitdem wird es vermisst. Es könnte auch sein, dass es sich unter den Toten des 11. Septembers befindet. Das alles wissen wir aber noch nicht. Wir stehen ganz am Anfang unserer Recherchen in den USA. Was wir wissen ist, dass das Mädchen nicht auf dem JFK-Airport, sondern auf dem Newark International Airport, New Jersey gelandet ist. Später wird uns der deutsche Vize-Konsul darüber informieren, dass alle Einreisekarten der Passagiere des Fluges LH 408, mit dem es geflogen ist, vorliegen, außer der des Mädchens. Wir werden auf Hinweise einer international tätigen Sekte stoßen, aber die Achtzehnjährige nicht finden. Trotz intensiver Zusammenarbeit mit verschiedenen Polizeirevieren, dem FBI, dem deutschen Konsulat,  ist es so, als hätte der Moloch New York das Mädchen regelrecht verschluckt.

Der Captain, mit dem wir an diesem 12. November 2001 einen Termin vereinbarten, ist nun der Einsatzleiter des Flugzeugabsturzes in Queens. Als ich morgens in meinem Hotelzimmer von der Katastrophe erfahre werde ich von einem deutschen Privatsender sofort mit Dreharbeiten beauftragt. Inzwischen ist der Sitz der Vereinten Nationen in Manhattan hermetisch abgeriegelt worden, in dem momentan die UN-Vollversammlung tagt. Die drei New Yorker Flughäfen werden vorübergehend geschlossen, der U-Bahn-Verkehr zwischen Queens und den anderen Stadtteilen eingestellt. Alle Brücken und Tunnel, die von und nach New York führen sind für den normalen Verkehr vorsorglich gesperrt, so dass wir nur mit etwas Glück in das betroffene Viertel kommen. Über unseren Köpfen kreisen Kampfjets. Alle sind nervös. Und in vielen Augen spiegelt sich nackte Angst vor erneutem Terror, vor der Verwundbarkeit im eigenen Land und vor dem Tod.

Rekonstruktion der Katastrophe: Flug 587 von New York nach Santo Domingo startet kurz nach neun Uhr Ortszeit auf dem John F. Kennedy-Airport Richtung Dominikanische Republik. Der Airbus A-300 der American Airlines ist mit zweihunderteinundfünfzig Passagieren und neun Besatzungsmitgliedern besetzt. Niemand wird den Absturz überleben. Die meisten Fluggäste stammen aus der Dominikanischen Republik. Um 9.17 Uhr Ortszeit geschieht das Unfassbare: der Airbus bricht kurz nach dem Start in vier Teile auseinander und stürzt auf das Wohngebiet herab, zerstört sechs Häuser völlig und beschädigt sechs weitere. Über die Unglücksursache wird spekuliert. Sabotage oder ein neuer Terroranschlag werden zunächst nicht ausgeschlossen. Das FBI berichtet von einer Explosion an Bord. Dem wird gleich darauf widersprochen. Die Leitung der Ermittlungen übernimmt nicht die Bundespolizei, sondern die Verkehrssicherheitsbehörde NTSB. Ein deutliches Zeichen für die Öffentlichkeit, dass kein krimineller Hintergrund vermutet wird. Dann sollen Turbulenzen eines voraus fliegenden japanischen Jets, sogenannte „Wirbelschleppen“ (weak turbulences) dafür verantwortlich sein oder ein Triebwerksschaden oder Materialfehler und das obwohl die Maschine noch einen Tag vor dem Absturz routinemäßig untersucht worden ist. Eine „intensivere“ Inspektion hat es sogar rund fünf Wochen früher, am 3. Oktober 2001 gegeben.[2]

Aber knapp zwei Monate nach „9/11“ darf es einfach nicht sein, dass Amerika erneut Ziel eines terroristischen Angriffs geworden ist, der die Nation erneut mitten ins Herz getroffen hat und erneut alle Sicherheitsmaßnahmen versagt haben! Dass das mächtigste Land der Erde gegen den heimtückischen Terror eigentlich machtlos ist. Alle mit denen wir an jenem Tag und auch den darauf folgenden sprechen, sind sich sicher, dass erneut Osama Bin Laden und seine Schergen zugeschlagen haben. So wie er es angekündigt hat. Und so wie es ein Washingtoner Radiosender verlautbarte: „Amerika wurde heute Morgen zum zweiten Mal innerhalb von zwei Monaten Opfer eines Terroranschlags auf eigenem Boden.“ Rudy Giuliani, der New Yorker Bürgermeister erklärte: „Wir werden ein zweites Mal getestet, aber wir sind stark und werden auch diese Tragödie überstehen.“[3] Vergessen ist auch nicht die „symbolische“ Bedeutung: am 12. November gedenken die Amerikaner ihren Kriegsveteranen. Ein Schlag ins Gesicht der amerikanischen Öffentlichkeit also. Alles nur Zufälle? George W. Bush und seine Regierung jedenfalls hätten in diesen Tagen einer völlig nervösen und verängstigten Nation unmöglich sagen können, dass Amerika wieder hilflos gegen terroristische Anschläge gewesen ist.


[1] „Hellfire“ in „New York Post“ v. 13.11.2001

[2] „Triebwerkschaden offenbar Ursache des Flugzeugabsturzes“ in: „Hamburger Morgenpost“ v. 13.11.2001

[3] „Um Gottes Willen, nicht schon wieder“ in: „Zollernalb-Kurier“ v. 13.11.01

2 Gedanken zu „Im Schatten von 9/11: "Erinnerung an eine Katastrophe"“

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