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Noch viermal hatte Caro mich an diesem Samstagnachmittag angerufen. Beim letzten Mal ging ich ran und sagte die Disco-Party am Abend mit einer fadenscheinigen Ausrede ab. Ich konnte einfach nicht. Meine beste Freundin glaubte mir zwar kein Wort, aber ich konnte es nicht ändern.

Als der Tag langsam der Dämmerung wich, saß ich immer noch vor meinem Laptop. Tausend Gedanken wirbelten durch mein Bewusstsein. Ich hatte eine Heidenangst mich erneut bei Facebook anzumelden. Aber ich war auch neugierig. Zu dem Zeitpunkt, als meine Mädels wohl schon die ersten Drinks an der Bar intus, die ersten Tänze und Flirts hinter sich hatten, loggte ich mich wieder in das weltweit größte soziale Netzwerk ein. Angespannt und nervös.

Irgendwie hoffte ich, dass das »Gott«-Profil gelöscht war. Sich alles nur als derber Witz herausstellte, ich das Laptop zuklappen, mich anziehen und zu meinen Freundinnen zum Abtanzen gehen konnte.

Aber so war es nicht. Gott – oder wer auch immer das war – war immer noch da! So als ob er auf mich gewartet hätte. Auf die neunzehnjährige Partymaus Sarah.

Hast Du Dich wieder erholt?

Ich atmete tief durch. Dann schrieb ich zurück:

»Sag mir endlich, wer Du bist!«

Ich wiederhole mich nicht dauernd.

»Wenn Du Gott bist, dann will ich einen Beweis!«

Das sieht euch Menschen ähnlich: Wenn ihr irgendwas nicht begreift, etwas euer normales Weltbild über den Haufen wirft, dann akzeptiert ihr das nicht einfach als eine außergewöhnliche Erfahrung, sondern ruft sofort nach einem wissenschaftlichen Beweis!

»Du redest dich raus, Gott!«, konterte ich und kam mir dabei ziemlich altklug vor.

Soll ich plötzlich neben dir auftauchen? Oder dich in himmlische Gefilde mitnehmen? Oder was stellst du dir so vor? Einen Ritt auf einer Wolke vielleicht? LOL.

»Wenn Du tatsächlich Gott bist, dann muss es doch irgendetwas geben, womit du meine Zweifel aus dem Weg räumen kannst?« Ja, jetzt gab ich’s ihm. Und zwar richtig!

Der Beweis ist, dass ich mich Dir über Facebook offenbare! Dass Du mich gerade erfährst!

»Das reicht mir nicht! Das kann irgendwie ein technischer Trick sein, den ich nicht durchschaue!«

Zu Deinem Namensvetter Neal Donald Walsch sagte ich einst dasselbe, was ich nun auch zu dir sage: Ich offenbare mich nicht aus der äußerlichen Wahrnehmung heraus oder durch die äußerliche Beobachtung, sondern durch die innere Erfahrung. Und wenn die innere Erfahrung Gottselbst offenbart hat, ist die äußerliche Beobachtung nicht nötig. Doch wenn die äußerliche Beobachtung nötig ist, ist die innere Erfahrung nicht möglich.

»Ehrlich gesagt ist mir das zu kompliziert«, schrieb ich immer ungeduldiger werdend. »Das checke ich nicht.«

Du wirst gleich verstehen, Sarah…

Langsam hatte ich die Nase voll. Warum hatte ich mich nur auf einen Facebook-Dialog mit diesem unbekannten Spinner eingelassen, während sich meine Mädels in der Disco amüsierten? War ich denn von allen guten Geistern verlassen?

Weißt Du eigentlich was Hunger ist?, fragte mich »Gott« unbeeindruckt von meinen zweifelnden Gedanken.

»Was ist das denn für eine Frage? Na klar, weiß ich was Hunger ist!«

Ich meine richtigen Hunger?

Irgendwie wurde mir plötzlich unbehaglich zu Mute. Auf was wollte »Gott« eigentlich hinaus? Was sollte diese Frage? Ich erinnerte mich daran, wie ich oft Heißhunger auf Fast-Food oder was Süßes verspürte. Wie es sich anfühlte, wenn ich am Samstag zu lange Party gefeiert und eine nicht unerhebliche Menge Alkohol im Magen hatte, Mama aber erst gegen Abend etwas Warmes kochte. Das war eben so üblich bei uns am Wochenende. Dann hatte ich so Hunger, dass mir richtig übel wurde.

Ich meine richtigen Hunger!, wiederholte »Gott«. Und irgendwie kam es mir streng vor, auch wenn das bei etwas Geschriebenem natürlich unmöglich war zu beurteilen.

»Das ist doch richtiger Hunger!«, schrieb ich genervt zurück.

Nein, Sarah, das sind nur Gelüste! Hunger ist etwas ganz anderes!

»Wie meinst Du das?«

Noch ein wenig Geduld … Weißt du eigentlich, wie man Hunger definiert?

»Keine Ahnung.«

Wenn Du bei einer leichten Tätigkeit, wie etwa beim Lernen, weniger als 2100 Kilokalorien konsumierst, dann bleibst du hungrig. Wenn man schwere körperliche Arbeit verrichtet, wie es beispielsweise Bauern oder Bauarbeiter tun, dann braucht man weitaus mehr zum Essen. Und wenn Du weniger als 1600 Kilokalorien täglich einnimmst, dann wird dein Gesundheitszustand lebensbedrohlich. Hast Du das gewusst, Sarah?

»Nein«, schrieb ich gelangweilt aber auch irgendwie unbehaglich zurück.

Rund 130 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind weltweit chronisch unterernährt und untergewichtig. Die Todesursache für ein Drittel aller Kinder unter fünf Jahren ist Unterernährung. Durch die Unter- und Mangelernährung der Mütter werden die Kinder schon vor der Geburt geschädigt und ebenfalls untergewichtig geboren. Jedes dritte Kind in den Entwicklungsländern bleibt deshalb kleinwüchsig. Sie sind damit kleiner als westliche Kinder. So wiegt beispielsweise in Indien ein durchschnittlich Neugeborenes nur 2,7 Kilogramm, gegenüber 3,4 Kilogramm in den Industrieländern. 

»Das ist ja schrecklich…«

Ja, Sarah, das ist schrecklich! Hunger und Unterernährung in der Schwangerschaft bedeutet für die werdenden Mütter nicht nur längere Wehen, ein erhöhtes Risiko von Blutungen und Infektionen, sondern auch, dass die meisten bei der Entbindung sterben. Und diejenigen, die überleben, bringen Kinder auf die Welt, die auch schon halb tot sind. Die einen offenen Rücken haben, deren untere Körperhälfte häufig gelähmt ist, deren Gehirn entweder gar nicht oder nur teilweise ausgebildet ist. Diese Kinder sterben meist kurz nach der Geburt. Die anderen leben mit Minder- oder Zwergenwuchs, mit Schwerhörigkeit, Sprachstörungen und verminderter geistiger Entwicklung. Das sind Kinder, die im falschen Land auf die Welt gekommen sind. In der Dritten Welt. 

»Ich will das nicht mehr hören…«

Was willst DU nicht mehr HÖREN? WAS?

»Ich kann das nicht mehr lesen, was Du mir schreibst. Das ist so…«

Du MUSST es Dir aber anhören, Sarah. Denn das ist die Realität! Die Wirklichkeit. Und nicht den Mist, den du täglich auf Facebook postest! Das ist das pure LEBEN!

»Aber nicht für mich…«

Du hast Glück gehabt, Sarah: Statt Hunger und Elend hast du Milch und Honig. Du und die anderen verwöhnten Party-Mäuse…

»Das ist mir noch nie so bewusst geworden…«

Willst Du immer noch wissen was Hunger ist? Was RICHTIGER Hunger ist?

Unwillkürlich schämte ich mich für meine großspurige Erklärung. Aber auch Trotz kam in mir hoch. Irgendwie fühlte ich mich »vorgeführt«, so als sei ich Schuld an dieser wahrhaftig menschlichen Tragödie.

»Aber wenn Du Gott bist, dann kannst Du das doch schnell ändern!«

Es verging eine halbe Ewigkeit, jedenfalls kam es mir so vor, bis »Gott« wieder antwortete.

Das ist genau das, was ihr Menschen immer macht: Läuft irgendwas aus dem Ruder, was ihr verbockt habt, dann bin ich daran schuld und soll es wieder in Ordnung bringen. Aber so läuft das nicht, Sarah!

»Wie läuft es denn dann?«

Ich habe euch Menschen zur Selbstständigkeit erschaffen. Und die habt ihr nicht nur erworben, sondern auch stetig von mir eingefordert! Also habe ich euch diese Freiheit gelassen: die Freiheit selber über euer Schicksal zu entscheiden. Es ist also eure Entscheidung, wenn ihr Krieg führt oder im Frieden lebt, wenn ihr die Wälder abholzt, die Luft verpestet, die Meere verunreinigt, die Tiere ausrottet. Nicht ich, sondern ihr seid dafür verantwortlich! Genauso ist es mit dem Hunger!

»Wie meinst Du das?«

Nicht ich verursache den Hunger in den Ländern, die ihr abfällig Entwicklungsländer nennt, sondern ihr selbst! Die Gründe sind vielfältig: Kriege und Bürgerkriege, Klimawandel, Wachstum der Weltbevölkerung, Vernachlässigung der Landwirtschaft, Landraub, Spekulationen mit Getreide und Nahrungsmittel und deren Verteuerung. Einfach ausgedrückt: Mit zunehmender Globalisierung und Monetarisierung der Welt wird es den Mittellosen immer schwieriger, sich ohne Geld Nahrungsmittel zu besorgen, weil auch die Tauschwirtschaft zu Gunsten der Spekulationen weitgehend abgeschafft wurde. 

»Auch das ist mir irgendwie zu kompliziert…« 

Ich gebe Dir ein Beispiel: Die Armen müssen achtzig bis neunzig Prozent ihres spärlichen Einkommens für Essen ausgeben, während das in den reichen Ländern nur zehn bis fünfzehn Prozent sind. Und das obwohl es eigentlich genügend Nahrungsmittel gibt! Aber die ganze Verteilungskette ist falsch. Und die habt ihr zu verantworten und nicht ich! Warum fragt ihr euch nicht selbst?

»So habe ich das noch nie gesehen.«

Dann freut es mich, dass ich Dir die Augen öffnen konnte. Aber trotzdem weißt du noch nicht, was richtiger Hunger ist, Sarah …

Dieses Mal zögerte ich mit der Antwort. »Gott« hatte recht. Ich wusste wirklich nicht, was »richtiger« Hunger war.

… Und deshalb sollst du ihn am eigenen Leib erfahren…

»Wie meinst Du…«

Noch bevor ich die Frage zu Ende geschrieben hatte, erfasste mich plötzlich ein starkes Schwindelgefühl. Etwas wirbelte mein Bewusstsein wie in einem Mixer durcheinander. Immer schneller und schneller. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit Luft zu holen.

Vor mir tauchte das abgemagerte Gesicht eines schwarzen Kindes auf. Fliegentrauben bedeckten Nasenflügel und Lippen. Die dunklen Augen waren weit aufgerissen. In ihnen spiegelte sich unsägliches Leid und Schmerz.

Ein Foto von Brot für die Welt oder einer anderen Hilfsorganisation, deren Seite hier auf Facebook vertreten war.

Diese dunklen, erstarrten, anklagenden Kinderaugen zogen mich fast magisch an. Eine hypnotische Kraft ging von ihnen aus, gegen die ich mich nicht wehren konnte.

Mein Blick verschmolz mit dem des Kindes.

Und dann –

– dann war …

… ICH dieses Kind!

——-

 

Cheja hängt leblos in dem verwitterten Tragebeutel zwischen den fladendünnen Brüsten von Babu, meiner Mama. Ihr Gesichtchen ist eingefallen und aschfahl. Die Augen vor Schmerz erstarrt, die anklagend in eine unbekannte Ferne blicken. Ihr winziger Körper besteht nur noch aus Haut und Knochen. Die kleinen Hände sind ineinander verkrampft, schaukeln jedes Mal hin und her, wenn Mama sich bewegt.

Cheja ist heute gestorben.

Nicht einmal zwei Jahre alt ist sie geworden.

Sondern vorher elendig verhungert.

Uns hängt seit Stunden leblos im Tragebeutel.

Aber Mama weigert sich das zu akzeptieren. 

Große schwarze Schmeißfliegen sitzen auf meiner kleinen Schwester. Legen ihre Eier ab, aus denen glitzernde Maden schlüpfen, die Cheja…

… die Cheja –

auffressen! 

Die sich an meiner kleinen, meiner toten, meiner verhungerten Schwester laben.

Die von ihr leben!

Eritrea, Nordostafrika.

Immer wenn die große Dürre kommt sterben so viele Menschen, wie es Sterne am Nachthimmel gibt. Und Kinder. So wie fünf meiner neun Brüder.

So wie Cheja…

Immer nur die ewige Sonne. Die ewige Hitze. Der tägliche Kampf um einen Schluck Wasser. Um eine halbe Handvoll Essen. Wenn überhaupt.

Ich sitze auf dem Boden.

Apathisch. Stumm.

Um mich herum nur Trockensavanne, Staub und Hitzeflimmern.  

Mama Bambu – mit meiner toten Schwester Cheja im Brustbeutel -schlägt mit einem Ast auf etwas auf dem seit Monaten ausgetrockneten Boden ein, was ich nicht mehr sehen kann. Denn mein Augenlicht schwindet immer mehr.

Bald wird alles eins sein:

Licht und Schatten.

Himmel und Erde.

Leben und Tod.

In meinem Inneren nagt der böse Geist des Hungers. Schon unzählige Tage und Nächte lang.

Der böse Geist des Hungers lässt meinen Magen und meine Gedärme schrumpfen und mein Sehvermögen verschlechtern.

Der böse Geist des Hungers bringt mir ewigen Schwindel, Haarausfall, Blutungen und Hautentzündungen, Blindheit, Zahnausfall, und Muskelschwund.

Aber der böse Geist des Hungers bringt mir noch mehr: Abmagerung, Wachstumsstillstand, Blutergüsse, Masern, Durchfallerkrankung, Leberschwäche, Atemnot, Lungenentzündung, Herzmuskelfaserrisse…

Mein Name ist Aini. Das bedeutet Frühlingsblume.

Ich bin die Tochter von Mama Bambu und Papa Hamza.

Ich lebe in Eritrea, das unser Stamm das »Land der ewigen Sonne und des ewigen Todes« nennt.

Ich bin neun Jahre alt.

Ich bin vor Hunger bis auf die Knochen abgemagert.

Ich bin zu schwach um zu atmen. Nur der Schmerz, der mich begleitet wie Mama Bambus abendliches Nachtlied, ist da. Er ist immer da. Und überall.

Ich habe große Angst vor dem was nun kommen wird. 

Denn ich –

– sterbe auf dem trockenen, staubigen Savannenboden, aus dem ich einst geboren wurde.

Ganz alleine.

So als ob es niemand mitbekommt.

Langsam und elendig…

————

Voll geil hier! Super süße Typen und geile Mucke! Komm doch noch! BITTE! Caro.

Ich löschte die SMS noch bevor ich sie richtig gelesen hatte. Denn noch immer saß ich weinend vor meinem Laptop.

Caro, die süßen Typen, die geile Mucke, die Disco – dieser ganze Scheiß konnte mir so was von gestohlen bleiben…

Aini.

Cheja.

Bambu.

Hamza.

Jetzt weißt Du, was Hunger ist, Sarah! Was RICHTIGER Hunger ist, nicht wahr?

Gott hatte RECHT! Und wie er recht hatte!

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Das Herz trommelte noch immer wild gegen meine Brust und das Blut rauschte in meinen Ohren.

Meine Hände zitterten, als ich den Laptop ausschalten wollte. Es war mehr als ich ertragen konnte.

Eritrea.

Das Land der ewigen Sonne und des ewigen Hungers.

Für heute wollte ich Schluss machen.

Aber Gott ließ nicht locker.

Ich fühlte mich bedrängt. Gott schien das irgendwie zu spüren, zu ahnen oder weiß ich was, denn er schrieb:

Wenn Du lieber in die Disco gehen möchtest, dann ist das kein Problem! Die süßen Typen und die geile Mucke warten! Und Caro!

Ich atmete tief durch. Wusste im ersten Moment nicht was ich schreiben sollte.

»Es ist nicht einfach zu verdauen…was Du gerade mit mir gemacht hast…«

Glaubst Du für Aini ist das Leben und die Wahrheit darüber leichter oder was?

»Nein, das wollte ich nicht damit sagen…«

Während du Dich gerade entschlossen hast doch noch in die Disco zu gehen, um Dich von dem anstrengenden Chat mit Gott abzulenken…

»… woher weißt du…«

… ist Aini gestorben!  

»Nein! Bitte nicht …«

Gerade eben!  

Jetzt konnte ich einfach nicht mehr! Ich heulte mir die Seele aus dem Leib.

Und dann schrieb ich voller Zorn und Wut: »WARUM hast du das nicht verhindert? Warum nicht, du scheiß blöder Gott …«

Lange kam keine Antwort. Dann las ich schluchzend:

Der Tod, und dann noch der Tod eines Kindes, mag Dir sinnlos vorkommen. Ich aber sage Dir, dass Aini ihr qualvolles Leben bereits vollendet hat. Ihre Heimat – wie die aller Gläubigen – ist nicht die leidvolle Erde, sondern der barmherzige Himmel, in dem es keine Schmerzen und keine Qualen gibt. Dort ist Aini jetzt. Glücklich vereint mit ihrer Schwester Cheja. Was glaubst Du, Sarah, wo Aini jetzt lieber sein möchte? 

Ich schrieb nichts zurück, sondern dachte über Gottes Worte nach.

Dann hörte das Weinen auf. 

 


 

Sarah Young Walsch


Teil 1:

https://guidograndt.wordpress.com/2015/05/30/sarah-young-walsch-gott-facebook-ich-1/

Mehr hier:

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 https://www.alaria.de/home/2820-gott-facebook-und-ich

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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