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 Am nächsten Tag war ich noch immer ziemlich aufgelöst. Und auch Caro hatte nicht locker gelassen: Sie wollte heute am Sonntagmittag bei mir vorbeikommen und nach mir sehen. Aber ich hatte keinen Nerv für ihre lästigen Fragen nach dem warum und wieso. Und auch nicht für ihre Erzählungen über die gestrige Disco-Nacht und die süßen Typen, die sie angebaggert hatten oder auch nicht. Eigentlich war mir das sowas von schnuppe! Deshalb sagte ich ihr ab.

Kennst Du Mandy Ewerts?, schrieb mir Gott wieder auf Facebook.

»Nein! Wer soll das sein?«

Doch, du kennst sie, Sarah! Sie wohnt in deiner Straße und ist so alt wie du.

Jetzt fiel es mir ein, wen Gott meinte: »Tonnen-Mandy«, wie wir sie wegen ihrer Leibesfülle nannten. Sie war mal in meine Klasse gegangen, hatte die Realschule dann aber abgebrochen und ich war aufs Gymnasium gewechselt, wo ich gerade das Abi machte. Doch einen richtigen Kontakt hatte ich zu ihr nie gehabt.

Ich glaube sie hatte früh ein Kind bekommen und war deshalb noch mehr gehänselt worden. Eigentlich sahen wir uns fast nie. Und die wenigen Male, wo es dann doch passierte, gingen wir uns aus dem Weg.

Genau, Sarah: »Tonnen-Mandy« habt ihr sie getauft. Die fette, unansehliche Mandy Ewerts, über die die ganze Schule gelacht und gespottet hat. So wie Du auch!

»Aber …«

Es gibt kein »Aber« wenn man sich über andere lustig macht, Sarah! Nicht, wenn man nur über das Äußere urteilt, den Mensch aber gar nicht kennt. Nicht weiß, warum »Tonnen-Mandy« einfach »Tonnen-Mandy« ist. Oder warum sie dazu WURDE! 

»Nein …«

Eure Vorurteile sind schrecklich, wirklich schrecklich. Habt ihr euch jemals die Mühe gemacht, mit Mandy zu sprechen statt sie auszulachen? Sie nach ihren Problemen zu fragen?

»Nein …«

Und WARUM nicht, Sarah?

»Ich weiß es nicht …«

Du weißt es also nicht? So, so, du weißt es nicht! Und trotzdem habt ihr Mandy – »Tonnen-Mandy« – mit Spott und Häme überzogen, habt sie ausgelacht und geschnitten, gemobbt und verletzt, wo es nur ging! Aber jetzt, jetzt weißt du nicht, WARUM! Ist das nicht seltsam?

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Gott hatte auch in diesem Fall recht! Wir hatten »Tonnen-Mandy« tatsächlich verspottet – wo und wann immer es nur ging! Am meisten wenn sie vor der ganzen Klasse ein Gedicht aufsagen, singen oder eine Mathe-Aufgabe an der Tafel lösen musste. Wir waren gemein gewesen. Echt gemein.

Dabei weißt Du gar nichts über Mandy, stimmt’s, Sarah?, ließ Gott nicht locker.

»Nicht wirklich …«

Dann werde ich Dir jetzt zeigen, was Du über Mandy wissen solltest!

Bevor ich reagieren konnte erfasste mich erneut dieses rasende Schwindelgefühl, das mein Bewusstsein in ein Karussell verwandelte, das immer schneller und schneller fuhr.

Vor mir erschien plötzlich das Facebook-Profil-Foto von Mandy Ewerts. Der ungepflegten, dicken Neunzehnjährigen, die mich mit ihrem Blick geradezu in sich »einsog«, bis ich selbst »Tonnen-Mandy« war!

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»Schon wieder Nudelsuppe! Ich will den Scheiß nicht mehr essen!« Marvin sieht mich über den Tisch hinweg herausfordernd an.

»Das ist kein Scheiß, Marvin! Und jetzt iss!«

»Vorgestern Nudelsuppe, heute Nudelsuppe. Ich will Schnitzel mit Pommes …«

Ich atme tief durch. »Der Monat hat erst gerade angefangen und wir hab schon fast kein Geld mehr, Marvin! Wir müssen sparen!«

»Ist mir egal, ich WILL Schnitzel!«

Mir reicht’s. Ich lasse mich doch von einem Vierjährigen nicht auch noch beim Mittagessen drangsalieren. »Entweder du isst die Suppe oder du kriegst heute kein Fernsehen mehr!«

Marvin steht so schnell auf, dass sein vollgefülltes Sprudelglas vom Tisch kippt und auf dem Linoleumboden zerbricht. Schnell breitet sich die glasklare perlende Flüssigkeit darauf aus.

»Sag mal, kannst du nicht aufpassen!«, fahre ich meinen Sohn genervt an. Ich nehme einen trockenen Lappen von der Spüle und gehe ächzend auf die Knie. Meine fast hundert Kilogramm Gewicht behindern mich erheblich dabei.

»Mama ist so fett! Mama ist so fett! Mama ist so fett!«, singt Marvin ungeniert und frech. Mir tut das in der Seele weh.

Autsch jetzt habe ich mich auch noch beim Aufwischen an einer Scherbe geschnitten. Und wie das blutet …

»Marvin, hol mir schnell ein Pflaster aus dem Bad!«

»Hol’s doch selber, dicke Kuh! Mama ist so fett! Mama ist so fett …« 

Es dauert eine halbe Ewigkeit bis ich wieder vom Boden hochkomme. Schweratmend, mit Schweiß auf der Stirn. Marvin hat sich in sein Zimmer verdrückt und hängt bestimmt vor seinem kleinen Fernseher.

Ja, ich bin fett. Richtig fett … 

Das Blut läuft nur so von meinem aufgeschnittenen Zeigefinger über die ganze rechte Hand.

Ich beeile mich ins Bad zu kommen, spüle es mit Wasser ab und verpflastere die Wunde. Der stechende Schmerz lässt nur langsam nach.

So ein Scheißtag!

Als ich in die kleine Küche zurückgehe und einen Blick auf meinen leergegessenen und Marvins unangetasteten Suppenteller werfe, kommen mir unwillkürlich die Tränen. Ich habe nicht einmal genug Geld um meinem Kind wenigstens einmal die Woche Fleisch zu kaufen! Was bin ich bloß für eine Mutter? Was ist das nur für ein Leben? 

Das Leben, mein Leben, war nur ein Dahinvegetieren. Mit fünfzehn Mutter geworden. Nicht aufgepasst beim ersten Mal. Gleich die Bombe gezündet, hat Ingo mal gesagt. Ingo, der Vater von Marvin. Damals gerade achtzehn. Als er erfuhr, dass ich schwanger war, hat er sich schnell ins Ausland abgesetzt. Abu Dhabi oder so. Dort schlägt er sich als Fremdenführer durch. Zahlt keine Steuern. Und keinen Unterhalt.

Ihn interessiert Marvin nicht im Geringsten. Und ich gleich gar nicht. Er hat mich da alleine gelassen, wo ich ihn am nötigsten gebraucht hätte.

Und meine Eltern? Die haben mich rausgeschmissen mit meinem »Balg«, meinem »Bastard«, nachdem ich volljährig geworden bin. Ohne Schulabschluss. Ohne Berufsausbildung.

So fahre ich jetzt direkt auf der Sozialamtstraße. Und dort auf der Überholspur.

Neunzehn. Alleinerziehend. Völlig mittellos. Und fett.

Wie oft habe ich daran gedacht, mich umzubringen?

Schon oft. Schon sehr oft.

»Mama ist so fett … Mama ist so fett …«, singt Marvin auf dem Klo weiter. Jedes seiner Worte sticht wie Nadeln in mein Herz und hinterlässt neue, offene Wunden. 

Und ich weine – weine immer weiter und schäme mich so sehr.

Für alles!

So sehr …

Verzeih mir mein Kind, dass ich dir kein besseres Leben bieten kann! Bitte VERZEIH mir!

BITTE…

… mein Kind …

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Ich schaute aus dem Fenster über die Straße zu dem alten verrotteten Haus. Im zweiten Stock lag »Tonnen-Mandys« – sorry – Mandys Zweizimmerwohnung. Hinter den Fenstern brannte Licht. Einmal vermeinte ich sogar den kleinen Marvin zu erspähen, wie er als Tischgroßer Schatten an den zugezogenen Vorhängen vorbeirannte.

Noch nie hatte ich das gemacht. Noch nie hatte mich das interessiert. Bis auf heute Abend.

Ich habe dir Mandy aus ihrer Sicht gezeigt. Denkst du jetzt anders über sie?, schreibt mir Gott auf Facebook.

»Ja, ganz anders. Sie … sie tut mir irgendwie leid …«

Vielleicht verspottest Du sie das nächste Mal nicht mehr, wenn du sie siehst, mit dem kleinen Marvin an der Hand! Vielleicht grüßt du sie oder redest sogar ein paar Worte mit ihr …

»Ja, vielleicht … Nein, ganz bestimmt. Bestimmt werde ich mit ihr sprechen.«

Sicher?

»Ganz sicher.«

 


 

Sarah Young Walsch


Teil 1:

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Teil 2:

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