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Und was hälst du von Thien Phuong?

»Von wem?«

Von Thien Phuong?

»Wer soll das jetzt wieder sein?«

Gott schrieb nicht gleich zurück. Ich bildete mir ein, dass er verärgert über meine Frage war. Doch dann:

Das ist der vierzehnjährige Vietnamesenjunge, der erst seit kurzem einen Facebook-Account besitzt. Er geht auf Deine Schule. Freilich ein paar Klassen unter dir. Dort begegnest du ihm nur ab und zu auf dem Schulhof beim Rauchen. Aber sonst siehst du ihn jeden Morgen wenn du im Coffee-Shop Deinen Kaffee holst, den du auf dem Weg zur Schule trinkst. In heißen Pappbechern, so dass Du Dir die Finger verbrennst und jedes Mal fluchst, weil du keinen Plastikbecher bekommst. 

»Sorry, ich wollte Dich eigentlich nie beschimpfen …«

Geschenkt, Sarah. Aber lass mich fortfahren: Der Vietnamesenjunge steht jeden Morgen neben dem Coffee-Shop an der Bushaltestelle. Direkt neben dem Ein- und Ausgang. Du kannst ihn gar nicht verfehlen. Weißt Du, wen ich meine?

»Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Er wird meistens von den anderen Schülern blöd angemacht und beschimpft, als Schlitzauge bezeichnet, das hier nichts zu suchen hat…«

Genau, Sarah! Das ist Thien Phuong. Das verdammte Schlitzauge, wie einige zu ihm sagen…

»Aber Du darfst doch keine Schimpfwörter benutzen, du bist doch Gott…«

Wie? Ich darf keine Schimpfwörter sagen? Ich habe sie euch doch erst beigebracht, so wie ich euch alle Sprachen der Welt beigebracht habe! LOL..

Dieses »LOL« von Gott irritierte mich immer wieder aufs Neue. Kaum vorstellbar, dass ein alter Mann mit weißen Bart auf einer Wolke saß und über Facebook  kommunizierte. Und doch…

LOL …

»Was ist mit Thien?«, forderte ich Gott nun das erste Mal selbst auf weiter zu sprechen.

So gefällst Du mir Sarah! Endlich kein erzwungener Dialog mehr, sondern eine richtige Kommunikation. So von Mensch zu Gott! Nun gut, zurück zu unserem verdammten Schlitzauge, wie ihr ihn bezeichnet … Thuong kommt aus Hanoi. Weißt Du wo das ist?

»Das ist die Hauptstadt der Sozialistischen Republik Vietnam«, schrieb ich stolz zurück. Doch Gott ging nicht auf meine guten Geografiekenntnisse ein, sondern schrieb stattdessen:

Thuongs Großeltern flohen einst aus Nordvietnam nach Deutschland. Sie waren große Kritiker des sozialistischen Einparteiensystems und wurden dafür verfolgt. Die darauf folgende Generation der Thuongs ist also genauso Deutsche wie Du selbst. Sie sind hier geboren, haben einen deutschen Pass, gehen zur Schule, arbeiten, heiraten und sterben hier. 

»Sie sind Deutsche, sehen aber anders aus. Und deshalb…«

Deshalb werden sie als verdammte Schlitzaugen bezeichnet. Weißt Du, wie sich das anfühlt, ein Fremder, ein Andersartiger im eigenen Land zu sein?

Schon längst hatte ich den Facebook-Account von Thien Phuong aufgerufen. Sein Foto war mit einem billigen Handy geschossen. Es zeigte einen mageren Jungen mit kurzen schwarzen Haaren, einem hageren Gesicht, hohen Wangenknochen und mandelförmigen Augen.

Sein Lächeln wirkte irgendwie gezwungen.

Soeben wollte ich Gott zurückschreiben, als mich wieder dieser Schwindel erfasste und mich in eine Art Zentrifuge riss, die immer schneller und schneller wurde bis ich direkt in den Geist und den Körper des Vietnamesenjungen Thien Phuong kreiselte…

——————————————

Schon seit ich denken kann beleidigen sie mich: Schlitzauge, Reisfresser, Kanalratte – das sind noch die harmlosen Ausdrücke für mich. Für mein Aussehen. Für das von Mama, Papa, meine Schwester und meine Großeltern. Für meine ganze Familie. Dabei sind wir doch Deutsche, genauso wie sie auch. 

Ich bin hier geboren und gehe hier zur Schule. Meine Familie arbeitet, zahlt Steuern und spricht fließend die Sprache ihres neuen Heimatlandes Deutschland. 

Doch wir – ich – können nicht fliehen vor den spöttischen Bemerkungen und Beschimpfungen über unser »Anderssein«. Nicht vor unseren rassistischen Nachbarn, nicht vor den Neonazis, die einmal im Monat auf dem Marktplatz aufmarschieren, nicht vor ausländerfeindlichen Mitschülern und auch nicht vor dem fünfundneunzigjährigen Rentner gegenüber, der mir einmal auf der Innenseite seines rechten Oberarms die Blutgruppentätowierung zeigte – ein Kennzeichen der Waffen-SS – und mich dann verfluchte und zum Teufel schickte. 

»Na, Reiskacker, was glotzt du so blöd in der Gegend rum und schnupperst deutsche Luft?«

Jäh werden meine Gedanken von den laut und hart ausgesprochenen Worten unterbrochen. An der Stimme, die in meinem Rücken aufgeklungen ist, erkenne ich, wer sie gesprochen hat: Klaus Mauthe, einer meiner Mitschüler. Er ist der Wortführer einer Jungenclique, die ganz im Gegensatz zu mir steht: von Bildung nicht viel hält, oft den Unterricht stört, rau und zuweilen unverschämt und vor allem Ausländerfeindlich ist. 

Ich sage nichts, sondern bleibe ruhig an der Haltestelle stehen, an der ich – wie jeden Morgen – auf meinen Bus zur Schule warte. Leider fahren Mauthe und seine Truppe auch mit ihm. Dennoch krampft sich mein Magen in Erwartung des kommenden Ärgers zusammen. 

Vor mir steht nun die ganze Clique: Neben dem großen, stämmigen Klaus, der untersetzte dicke Harald, der schlaksige Rudolf und der winzige, aber muskelbepackte Kai. Alle vier schauen mich streitsüchtig an. Ich kann die Verachtung, die sie mir entgegenbringen, förmlich spüren.  

»Was wollt ihr?«, frage ich mutiger als ich bin und achtete darauf, dass keine Angst in meiner Stimme mitschwingt.

»Was wir wollen?«, äfft Klaus mich nach. „Ich frage mich, was du willst? Was du hier willst?«

»Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden…«

»Du verstehst nicht, Schlitzauge«, unterbricht mich der Wortführer der Jungenclique barsch. »Was willst du hier in Deutschland? Du und deine ganze verdammte Reisfresserfamilie?«

Mein Herz zieht sich vor Wut zusammen und das Blut rauscht in den Ohren. Mir fällt ein, dass Klaus‘ Vater Mitglied einer rechtsextremen Partei ist. 

In diesem Moment geht ein hübsches blondes Mädchen an der Haltestelle vorbei und in den Coffeeshop nebenan hinein. Ich kenne sie vom Sehen: Sie ist ein paar Jahre älter als ich und macht Abi auf meiner Schule.  

»Meine Familie und ich sind genauso Deutsche wie ihr!«, antworte ich trotzig. Mein ganzer Körper ist angespannt. Zwar habe ich gegen diese Meute keine Chance aber ich bin schnell und sehnig. Gewiss kein bequemer Gegner.

Jetzt fangen die anderen Jungen an zu lachen, kriegen sich beinahe nicht mehr ein.

»Hast du … hast du heute Morgen schon mal in den Spiegel geglotzt und deine verfluchten Schlitzaugen gesehen?«, fragt mich Klaus. Und wieder fangen sie alle an zu lachen. Niemand sonst steht um die Zeit an der Bushaltestelle. Ich bin alleine mit meinen Mitschülern, die wie Jagdhunde hecheln, siegessicher sind und die chancenlose Beute einkreisen.

Und dann sind sie plötzlich alle über mir, schreien und schlagen so lange auf mich ein, bis meine dünnen Beine wie Grashalme umknicken, ich schwer auf den Gehsteig falle und schließlich unter dem Trommelfeuer aus Fausthieben und Fußtritten jede Gegenwehr aufgebe.  

Der glühende Schmerz, der durch meinen gesamten Körper zuckt, ist nicht das Schlimmste – viel schlimmer ist noch, dass mich das blonde Mädchen, das soeben mit einem Pappbecher Kaffee aus dem Coffeeshop zum Auto geht, so am Boden liegen sieht: heulend und mit Schürfwunden, Prellungen und blauen Flecken übersät. Über mir die geifernden Gesichter der jugendlichen Schläger. 

Die Blondine wirft jedoch nur einen kurzen Blick auf die Szenerie und geht schnell weiter zu ihrem Auto. 

Dann kommt der Bus und hält an. Die Bremsen quietschen und die automatischen Luftdrucktüren öffnen sich ächzend. Jetzt lässt die Meute von mir ab und steigt ein.

Ich bleibe zurück, sehe den uninteressierten Blick des Fahrers und höre wie Mauthe und die anderen wie wild gegen die Busscheiben klopfen. Sie zeigen mir ihre Stinkefinger und grinsen kalt.

Ich wische mit dem Ärmel meiner Jacke das Blut aus dem Gesicht, stehe mit zitternden Knien auf.

Deutschland einig Vaterland.

Tränen funkeln in meinen Augen. Vor Wut. Und vor Traurigkeit.

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Jetzt fiel es mir wieder ein, wie ich Thien Phuong an der Bushaltestelle liegen gesehen hatte – über ihm eine Meute von Raufbolden. Damals fuhr ich einfach los, ohne ihm zu helfen oder Hilfe zu rufen. Dabei hätte er von den Schlägern totgetrampelt werden können.

Schämst Du Dich jetzt, Sarah?, fragte mich Gott auf Facebook.

»Ja, und wie! Thien hätte tot sein können …«

Deine Reue kommt ein bisschen spät, meinst Du nicht auch? Gott machte mir ein noch schlechteres Gewissen, als ich es ohnehin schon hatte.

»Viel zu spät!«

 


Sarah Young Walsch


Teil 1:

https://guidograndt.wordpress.com/2015/05/30/sarah-young-walsch-gott-facebook-ich-1/

Teil 2:

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Teil 3:

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