Einer der bekanntesten deutschen Erzähler der Gegenwartsliteratur, Günter Grass, hat mit seinem Gedicht „Was gesagt werden muss“, das vor wenigen Tagen in der Süddeutschen Zeitung, der italienischen La Repubblica und der spanischen El Pais veröffentlicht wurde, die Republik gespalten. Darin behauptet er Israel gefährde den Weltfrieden und bedrohe (mit seinen Atomwaffen) den Iran.
Doch Grass, Freund des einstigen SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt, der 1999 den Literatur-Nobelpreis erhielt und 2006 seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS öffentlich machte, packt mit seinem Gedicht ein Tabuthema (in Deutschland) an: Darf man die Politik Israels kritisieren oder nicht?
Sein Gedicht hat diesen Diskurs erneut ausgelöst. Jegliche Kritik an Israels Politik wird normalerweise als Antisemitismus abgetan, wie die Äußerungen vieler Politiker zeigen, auf die ich auch noch eingehen werde. Und auch die Medien reagieren genauso darauf. Die „Bild“ nannte Grass‘ Gedicht „irre“.
In der Tat darf auch die aggressive Politik des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad nicht verharmlost werden, im Gegenteil. Dennoch: Grass warnt mit seinen Worten nicht vor der Vernichtung dieses persischen Diktators, sondern vor der Vernichtung des iranischen Volkes.
Grass bekennt sich auch als Deutscher einem Land anzugehören, das ureigene Verbrechen begangen hat, die ohne Vergleich sind (gemeint ist der Holocaust) und postuliert seine Verbundenheit mit Israel, verlangt eine internationale (Atom-)Kontrolle beider Länder.
Zunächst möchte ich Günter Grass‘ Gedicht aufzeigen und mich später mit den Reaktionen darauf beschäfigen.
Was gesagt werden muss
Von Günter Grass
Warum schweige ich, verschweige zu lange,
was offensichtlich ist und in Planspielen
geübt wurde, an deren Ende als Überlebende
wir allenfalls Fußnoten sind.
Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,
der das von einem Maulhelden unterjochte
und zum organisierten Jubel gelenkte
iranische Volk auslöschen könnte,
weil in dessen Machtbereich der Bau
einer Atombombe vermutet wird.
Doch warum untersage ich mir,
jenes andere Land beim Namen zu nennen,
in dem seit Jahren – wenn auch geheimgehalten –
ein wachsend nukleares Potential verfügbar
aber außer Kontrolle, weil keiner Prüfung
zugänglich ist?
Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,
dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,
empfinde ich als belastende Lüge
und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,
sobald er mißachtet wird;
das Verdikt ‚Antisemitismus‘ ist geläufig.
Jetzt aber, weil aus meinem Land,
das von ureigenen Verbrechen,
die ohne Vergleich sind,
Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird,
wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch
mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert,
ein weiteres U-Boot nach Israel
geliefert werden soll, dessen Spezialität
darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe
dorthin lenken zu können, wo die Existenz
einer einzigen Atombombe unbewiesen ist,
doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will,
sage ich, was gesagt werden muß.
Warum aber schwieg ich bislang?
Weil ich meinte, meine Herkunft,
die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,
verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit
dem Land Israel, dem ich verbunden bin
und bleiben will, zuzumuten.
Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir – als Deutsche belastet genug –
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.
Und zugegeben: ich schweige nicht mehr,
weil ich der Heuchelei des Westens
überdrüssig bin; zudem ist zu hoffen,
es mögen sich viele vom Schweigen befreien,
den Verursacher der erkennbaren Gefahr
zum Verzicht auf Gewalt auffordern und
gleichfalls darauf bestehen,
daß eine unbehinderte und permanente Kontrolle
des israelischen atomaren Potentials
und der iranischen Atomanlagen
durch eine internationale Instanz
von den Regierungen beider Länder zugelassen wird.
Nur so ist allen, den Israelis und Palästinensern,
mehr noch, allen Menschen, die in dieser
vom Wahn okkupierten Region
dicht bei dicht verfeindet leben
und letztlich auch uns zu helfen.
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/n5J388/557180/Was-gesagt-werden-muss.html